Ehrlichkeit ist ein hoher moralischer Wert in unserer Gesellschaft.
Schon als Kinder werden wir angehalten, die Wahrheit zu sagen, nicht zu lügen oder etwas zu verheimlichen.
Aber wenn ein Kind im Tram mit dem Finger auf jemanden zeigt und laut ruft:»hat die aber einen doofen Hut auf», antwortet die Mutter: sowas sagt man nicht und sowas macht man nicht.
So kommt das Kind langsam in ein Dilemma, soll es nun die Wahrheit sagen oder nicht.
Und wir als Erwachsene immer noch: soll ich meiner Frau sagen, dass ihr das neue teure Kleid, über das sie sich so gefreut hat, nicht steht und damit den tollen Abend verderbe? Oder sag ich meinem Mann, dass mein Kollege mich neuerdings mit Komplimenten überschüttet und riskieren, dass er eifersüchtig wird?

Wieviel Berechnung ist in unserer Moral? Oder ist es Klugheit?
Wäre es nicht dumm meiner Vorgesetzten zu sagen, dass ich sie für eine Chaotin halte?
Oder ist es Rücksichtnahme, wenn ich mir ausrechnen kann, dass mein Gegenüber durch meine Ehrlichkeit verletzt würde?

Schwieriges Dilemma, ehrlich zu sein.
Bei all den doofen Hüten, den geschmacklosen Kleidern, dem Misstrauen, dem chaotischen Verhalten von Anderen, geht es ja um meine Bewertung und meine Massstäbe.
Die Frau mit dem Hut hat ihren eigenen Geschmack, die Ehefrau einen eigenen Blick auf sich,
dem Ehemann unterstelle ich Eifersucht, weil es mir umgekehrt nicht gefallen würde, wenn seine Kollegin ihn bezirzt, und die Vorgesetzte hat eine andere Vorstellung von Ordnung als ich.
Wenn ich mir stattdessen sagen würde:

  • die Frau mit dem doofen Hut liebt Besonderes
  • die Ehefrau mit dem neuen Kleid hat sich was Gutes gegönnt
  • die Ehefrau liebt ihren Mann und will ihn nicht bekümmern
  • und die Vorgesetzte geht spielerisch mit den Anforderungen des Tages um.

…. Ich käme aus dem moralischen Dilemma der Ehrlichkeit herum, indem ich meine Werte nicht als die einzig richtigen verstehen würde.